Heuristiken und andere Kuriositäten

Durch die Spur von Jochen Robes Post auf meinem letzten Artikel „Mikro-Makro-Mut zur Lücke“ in Verbindung mit einem mir zunächst erklärungsbefürtig erscheinenden Tweet, in dem er über Wasserhähne und Badezimmer spricht, habe ich mich auf Fährtensuche begeben und mich bei George Siemens in Kanada wiedergefunden.

Welt lass Dich umarmen. Kanada ist ja nur einen Klick weit entfernt. Hier finde ich einige meiner Gedanken zum Thema „MOOC und Microlearning“ wieder. (Zwar ist das Wort Microlearning hier nicht explizit erwähnt, ich gehe aber davon aus, dass ein MOOC zumindest Microlearning-Anteile enthält.)

Was hat ein Badezimmer mit Heuristiken zu tun?

Was hat ein Badezimmer mit Heuristiken zu tun?

In besagem Badezimmer-Artikel von George Siemens From knowledge to bathroom renovations wird der Versuch einer Definition von Wissen gemacht.

For a few thousand years, philosophers, theologians, and academics have debated knowledge. They’ve developed multi-syllabic terms like “epistemology” and “hermeneutics” to reflect this exploration. But they certainly haven’t come to an agreement on what “knowledge is”.

Eine weitere Spur auf meinem Weg sind die Ausführungen von Anja Lorenz. Sie schreibt in Ihrer Veröffentlichung Über kurz oder lang. Ein Schlichtungsversuch zur Debatte über Micro- und Macrolearning in Ihrem Fazit folgendes:

Micro- und Macrolearning sind keine konkurrierenden Konzepte, vielmehr haben sie unterschiedliche Einsatzszenarien: Um durch Microlearning- Einheiten eine schnelle Anwendung des Gelernten zu erlangen, muss ein gewisses, komplexes Grundwissen bestehen, in das die neuen Informationen eingebettet werden können. Gleichermaßen ist es zur schnellen Problemlösung unzweckmäßig, lange dauernde Schulungen und E-Learning-Kurse zu besuchen. Hier sind kurze Lerneinheiten gefragt, die schnell zu einer Antwort führen. Diese Symbiose beider Lernformen kann bei der Erstellung von Lernmaterialien genutzt werden, um einzelne Abschnitte größer angelegter Lernmaterialien für Microlearning wieder zu verwenden.

Anja Lorenz plaziert Microlearning in einem klassischen Lernszenario rund um ein LCMS (Learning Content Management System). Beiden Lernformen weist sie Struktur, Lernziele und ein ähnliches didaktisches Konzept zu. Lediglich bei der Art der Lernziele und der Herangehensweise sieht Anja Lorenz Unterschiede:

    Microlearning

  • kurz (informell)
  • bottom-up
  • Lernziel: Kurzfristige Problemlösung
    Macrolearning

  • länger (formell)
  • top-down
  • Lernziel: Umfassendes Wissen,
    allgemeines Verständnis, Bewertung

Wie aber sieht Microlearning in einem anderen Lernszenario wie z.B. einem MOOC (Massive Open Online Course) aus? Ich persönlich glaube, es gibt durchaus neue Aspekte im Bereich Mikrolernen, wenn man von einem Lernszenario mit einem nonlinearen, unstrukturierten, ergebnisoffenen Charakter ausgeht.

Wer schon einmal Prozesse innerhalb einer komplexen Heuristik in sich stimmig versucht hat zu dokumentieren, der weiß aus Erfahrung dass beim Versuch, ein komplexes Thema zu erschließen weder der top-down Ansatz noch der bottom-up Ansatz in seiner Reinform existieren. Es ist eher ein wechselseitiges „sich annähern“ hin zu einem Gesamtbild durch Ausarbeitung von Einzelheiten (bottom-up) und der anschließdenden Überprüfung deren Stimmigkeit hinsichtlich des Gesamtkonzeptes (top-down). Ein Faktor der erschwerend hinzukommt ist, dass sich das Gesamtkonzept während der Beschäftigung mit dem Thema immer wieder ändert, je mehr Entitäten hinzukommen. Und auch deren Reihenfolge sowie Kombination können sich immer wieder ändern.

George Siemens beschreibt das Phänomen anhand der Renovierung eines Badezimmers. Wenn der Wasserhahn ausgetauscht wurde, stellt man fest dass auch der Abfluss erneuert werden muss, weil er nun nicht mehr passt. etc. „Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste“. Auch die alte Redewendung beschreibt den Vorgang sehr treffend. Leider fehlt in beiden Fällen die erneute Rückkopplung in Richtung Entität. Auch in der Programmierung finden sich solche heuristischen Konzepte. Wer mit objektorientierter Programmierung vertraut ist, wird den Vorgang des gedanklichen Wechselns zwischen top-down und bottom-up ebenfalls sehr genau kennen.

Objektorientierung: Unterschied Klasse (abstrakt) und Objekt (individuelle Ausprägung)

Objektorientierung: Unterschied Klasse (abstrakt) und Objekt (individuelle Ausprägung)

Ähnlich habe ich es auch in mehreren Projekten beim Definieren von Lern- und Geschäftsprozessen erlebt. Eine komplexe Heuristik muss insgesamt in sich stimmig sein und gleichzeitig müssen alle Einzelteile passen. Ein solches Konzept lässt sich nur dann kongruent realisieren wenn man ständig zwischen top-down und bottom-up hin und herspringt und alle Elemente in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang bringt. Mikro produziert also unweigerlich Makro, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch ganz automatisch den Drang verspürt, die Welt um ihn herum zu strukturieren und zu ordnen. Es liegt in seiner Natur, Ordnung schaffen zu wollen.

Das „heuristische Lernen“ als didaktisches Konzept müsste also auch das gedankliche Springen zwischen den Ebenen beinhalten, so wie es beim Umgang mit unstrukturierten, ergebnisoffenen Umgebungen vorkommt. Da ich in diesem Artikel von meinen persönlichen Erfahrungen mit Heuristiken spreche, erlaube ich mir, das Modell von Baumgartner zum Heuristischen Lernen (siehe weiterführende Links) in etwas abgewandelter, vereinfachter Form darzustellen.

Wenn in einem MOOC, keine strukturellen Vorgaben gemacht werden, so ist der Rezipient gezwungen, sich das Thema strukturell zu erarbeiten. Er wird dann zwangsläufig genau diese Vorgehensweise anwenden. d.h. er wird zwischen dem Versuch, Entitäten sinngemäß zusammenzufügen und der Überprüfung des Gelernten auf der Meta-Ebene hin und her wechseln. Der Lerneffekt – wenn er denn stattfindet – sollte auf diese Weise groß sein, da eben nicht auswendig gelernt werden KANN. Es reicht auch nicht, einfach nur einzelne Entitäten zusammenzufügen, wie es beim (strukturierten) Makrolernen der Fall wäre. Auch dann stellt sich in einem unstrukturierten, ergebnisoffenen Szenario kein Verständnis ein. Es ist erforderlich, die dahinterliegenden Konzepte zu erarbeiten. Hierzu muss auf eine Meta-Ebene gewechselt werden und das beinhaltet, dass das Thema abstrahiert wird und Muster sowie Ursache und Wirkung begriffen werden, bevor Verständnis einsetzt.

Das Fehlen von Zusammenhang stößt einen strukturbildenden Lernprozess an

Das Fehlen von Zusammenhang stößt einen strukturbildenden Lernprozess an

Ohne Zweifel ist es schwierig, auf solche Art und Weise zu lernen und es erfordert verschiedene Kompetenzen. George Siemens schreibt in seinem Artikel Do open online courses have a role in educational reform? dazu folgendes:

When the course begins, we inform learners that the process of clarifying confusion and disorientation – sensemaking and wayfinding in complex settings – is the learning. Grappling with pieces that don’t connect and finding a way to connect them is what the course is all about. In the process, learners may move toward a target where knowledge is defined and educators know what learners need to know or they may move more informally in directions that interest them without a goal of accreditation. Many (no idea if it’s most or not) learners that continue in the MOOC seem to settle into the flow of the course and begin to connect pieces.

Das didaktische Konzept eines MOOC besteht also genau aus dieser Herausforderung. Doch wie kann gewährleistet werden, dass Lerner sicht tatsächlich mit einem Lernfeld gewinnbringend auseinandersetzen? Hierzu habe ich mir für Mikrolernen in unstrukturierten Lernszenarien eine einfache Formel überlegt:

Lernerfolg bei einem MOOC (Massive Open Online Course)

Lernerfolg bei einem MOOC (Massive Open Online Course)

Weiterfürhende Links:

Peter Baumgartner, Universität Innsbruck, Institut für Organisation und Lernen (IOL), Abteilung Wirtschaftspädagogik u. Evaluationsforschung:

eLearning & eTeaching: Didaktische Modelle

Didaktische Anforderungen an (multimediale) Lernsoftware

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