Ich bin ja sozusagen Tester der „späten Stunde“, denn erst seit Mittwoch, 6. Juli habe ich Zugang zu Google+. „Was machen die eigentlich alle für einen Aufstand mit ihren Invites?“, denke ich noch und bin gar nicht wirklich interessiert. „Ein weiteres Tool von inzwischen tausenden?“ So what. „Gut gemachtes virales Marketing, mehr nicht.“
Der erste Tag im neuen Google Universum
Ja, in der Tat, das Marketing ist wirklich gut. Durch die Beschränkung ist Google+ in aller Munde und wird heftig bei Twitter getaggt. Jeder will einen Invite haben. Aber das ist gar nicht der wirkliche Grund für die schubweise Öffnung der Anwendung. Im Beitrag Google drosselt Einladungen zu Google+ wird erklärt, dass so viele User, die sich auf einmal anmelden, das System sprengen. Und man muss auch erst mal testen.
Es ist der helle Wahnsinn. Alle 10 Minuten fügt mich jemand zu seinem Kreis hinzu. Im Sekundentakt entdecke ich Neues und es mischt sich ein hauch Entsetzen mit Faszination und etwas derzeit noch Undefinierbarem. Zunächst denke ich, es sei nur ein Zusammenfügen von vielen Tools, die es schon gibt. Aber so ganz stimmt das nicht. Die Unterschiede entdecke ich erst auf den zweiten Blick.
Sascha Lobo schreibt in einem Artikel „Wem Google+ wirklich Konkurrenz macht“ für den Spiegel:
Die Urfrage von Facebook, die jeder Nutzer durch seine Aktivitäten fortwährend beantwortet, lautet: Wer bist Du? Die Urfrage von Google+ lautet: Was interessiert Dich?
Das ist ein interessanter Ansatz. Ich finde neben der Ur-Frage noch weitere Fragen.
Die semantische Frage
Sehr spannend sind die Circles, die mit Tags aus der Nutzerperspektive versehen werden. Jeder fügt Personen zu einem Kreis hinzu und kategorisiert diesen. Er ist völlig frei, dies thematisch, „verhältnisbezogen“ oder anhand ganz anderer Bewertungskriterien zu tun.
Interessant wäre es in diesem Zusammenhang Selbst- und Fremdbild der einzelnen User herauszufinden. Stimmen die Tags von zwei untereinander verknüpften Personen überein? Oder werden komplett unterschiedliche Tags gewählt. Gibt es gravierende Unterschiede? Welche Art von Tag wird vergeben? Sind gemeinsame Interessensgebiete maßgeblich (z.B. TYPO3-Community, Kunst-Community, etc.) oder eher die Beziehung (z.B. Freunde, Familie, Bekannte, etc.) Oder ist es vielleicht auch beides?
Außerdem gibt es einen Dienst namens „Sparks“. Hier kann man einen inhaltsbezogenen Begriff angeben (z.B. Kunst, Kommunikation, Crossmedia, etc.) Man erhält Google-Sucheergebnisse zum Thema.
Evaluation 2.0.
Ausgereift sind die Funktionen noch nicht, aber sie lassen schon ahnen, wohin die Reise gehen wird. Derzeit werden sehr viele Funktionalitäten angeboten, die sich teilweise überschneiden. Nach und nach, werden sicher einige der Funktonen verschwinden und die erfolgreichsten weiter ausgebaut. Die Datengrundlage für ein solches Vorgehen ist bei Google fantastisch. So kann ein Tool generiert werden, das wirklich die Nutzerbedürfnisse „versteht“ und beachtet.
Ich bin beeindruckt, und zwar gar nicht so sehr von der derzeitigen Funktionalität sondern von der Größe des Vorhabens und von der bedachten Vorgehensweise. Hier sind Profis am Werk und es ist schon ein wenig beängstigend, wenn man bedenkt, wie viele Daten bei Google im sekundentakt evaluiert werden und was alles damit herausgefunden werden kann.
Benutzermanagement 2.0.
Es gibt bei Google + kein Benutzermanagement im herkömmlichen Sinne. (d.h. Ein Administrator vergibt an bestimmte Nutzergruppen Zugangsrechte.) Nein, bei Google + ist das anders. Hier bestimmt der Nutzer selbst seine Gruppen und welche Zugangsrechte diese Gruppen bekommen sollen. So lässt sich sehr fein regeln, wem welche Informationen zugänglich gemacht werden. Die Regelung wird dem einzenlen Nutzer nicht aufgezwungen. Er selbst bestimmt.
Nachtrag am 9.Juli.2010: Vielleicht sollte ich lieber schreiben: Ich sehe kein Benutzermanagement. Ob es letztlich eines gibt, kann ich als Benutzer nicht wissen. Es wäre aber schön, wenn ein Konzept gefunden würde, das ohne ein von oben verordnetes Benutzermanagement auskommt. Selbstbestimmtheit als menschiches Grundbedürfnis ist derzeit einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiche Systeme. (Die Abstände zwischen den Kreisen lassen vermuten, dass hier noch ein zweiter Kreis vorgesehen ist. Vielleicht existiert er bereits, ist nur noch nicht freigeschaltet?)
Google und die Wissenschaft?
Das höchste Gut bei Google + sind die wissenschaftlichen Daten, die ganz einfach und problemlos erhoben werden können; ja sozusagen schon da sind und nur noch unter bestimmten Gesichtspunkten analysiert werden brauchen. Wer über diese Daten verfügt, hat die Möglichkeit unglaublich viel valides Wissen aus ihnen zu generieren. Die Anzahl der User spricht für sich. Von einer solchen Datengrundlage kann man nur träumen. Es muss daher ganz klar sein, dass Google die erhobenen Daten in irgend einer Form der Öffentlichkeit zugänglich machen muss. Andernfalls könnte es künftig passieren, dass ein hoher Prozentsatz Wissenschaftler nicht mehr in Universitäten angestellt sind, sondern bei Google und Google uns künftig sagt, was wir wissen sollten und was nicht.
Die Frage nach dem Datenschutz
Wie gesagt, der User kann bei Google+ weitestgehend selbst bestimmten, welche Daten von ihm nach außen gelangen. Auch das Statistik Tool erhebt nicht einfach so Daten. Eine Anmeldung und die damit verbundene Erlaubnis, personenbezogene Daten öffentlich zu machen ist erforderlich.
Die Frage nach dem Datenschutz stellt sich also gar nicht unbedingt in herkömmlicher Art und Weise. Google verwendet die Daten sorgsam und es gibt sogar ein Datenschutz-Center in dem sich der Nutzer genau informieren kann, was mit seinen personenbezogenen Daten geschieht. Es sind aber gar nicht die personenbezogenen Daten, die den Dienst so unglaublich mächtig und beängstigend interessant machen. Es geht hier um das nicht-personenbezogene Nutzerverhalten, das aus extrem vielfältigen Daten von Millionen Nutzern evaluiert werden kann. Da bleibt keine Frage mehr offen.
Datenschutz wird in Zukunft wohl eher etwas damit zu tun haben, ob relevante Daten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und als Forschungsgrundlage genutzt werden können, oder ob die „Wissensträger“ bzw. die Besitzer der Daten diese eben nicht preisgeben.
In der hier verlinkten Diskussion auf Google+ zum Thema Nutzermanagement, später dann aber auch Datenschutz und Frauenquote, wird eine Statistik-Seite von Google vorgestellt. (Bild siehe oben „google-statistics“) Eine persönliche „Hall of Fame“ der Creme de la Creme im Internet-Universum. Die Statistik der Google+ User mit den meisten Freunden und Followern. Viele der Berühmtheiten haben selbst gar keine Freunde aber sehr viele Follower.
Die Frage nach dem Zielpublikum
Schockierend ist die kleine Grafik, die sich auf der Google-Statistics Seite ganz unscheinbar auf der rechten Seite befindet. Frauenquote ganze 11%. Das ist bitter. Eine Evaluation ist natürlich schwer, wenn die an Google+ ganz besonders interessierten Personen hauptsächlich männlich sind. Dies verzerrt das Bild. Der Artikel Shock: Google+ users are 88% male greift das Thema auf. Das Fazit: Ohne Frauen wird Google+ nicht erfolgreich sein.
Die Frage nach der Ethik
Nicht zuletzt wirft Google+, wenn es als globale Plattform für Kommunikation gedacht sein soll, einen sehr wichtigen Punkt auf. Was macht wirklich Sinn? Und was bringt uns Menschen insgesamt weiter. Bei allen Vorbehalten bin ich sicher, dass sich genau das durchsetzen wird, was die Menschheit insgesamt weiter bringt. Und diese Plattform hat das Potenzial, etwas zu bewegen – im positiven wie im negativen Sinne.
Weitere Beiträge zum Thema Google+
Johnny Haeusler | Spreeblick
Zitat aus dem Beitrag:
Ein Wechsel zu Google+ mit Abkehr von Facebook würde bedeuten, dass Google mich fast besser kennt als ich selbst. Die statistische Durchschaubarkeit bleibt der Preis, den wir für kostenfreie Dienste wie Facebook und Google+ bezahlen, und so richtig schmeckt mir das alles immer noch nicht, wirklich offene Kommunikation auf diesen Portalen verkneife ich mir deshalb, es bleibt halt doch an der Oberfläche.
Guenter Dueck | Sinnraum
Zitat aus dem Beitrag:
Hoffentlich hat Google die kluge Hand, alles so spartanisch zweckgetreu zu lassen. Vielleicht schaffen sie es, das Vertouristen, das Zudringliche und Laute draußen zu lassen. Ach, dann müssen wir nicht immer alle zwei Jahre umziehen.
Spiegel Artikel über von Google finanziertes Forschungsinstitut
Dörte Giebel
Michael Kerres
Guido Brombach