Grundlinienversatz – Benedetto Croce

Kunst als Wissenschaft vom Ausdruck

Die Präsentation zeigt einen Text von Benedetto Croce, zusammen mit einer Illustration aus Grundlinienversatz, Zeitschrift für Ästhetik, Ausgabe 1. Die beiden Fotocollagen sehen auf den ersten Blick aus wie eine Raupe. Erst bein näherem Hinsehen wird deutlich, woraus die Collage tatsächlich besteht…

… aus dem Foto eines Auges. Was hat das Auge mit dem Text von Benedetto Croce zu tun, einem Philosophen, Literaturkritiker und Politiker aus dem Idealismus? Croce beschäftigte sich mit ästhetischer Wahrnehmung als eigenständige und autonome Form der Erkenntnis. Ästhetik für Croce ist Kunst des Ausdrucks.

Abb. 1: Präsentation des Kapitels mit Text und Illustration in Grundlinienversatz

Dieser Beitrag ist Teil der Artikelserie „Grundlinienversatz“, die unter dem folgenden Link aufgerufen werden kann. https://www.designeon.com/category/grundlinienversatz

Mit Croce verliert der Schönheitsbegriff des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, der Schönheit als etwas der Natur innewohnendes begreift, entgültig seine bestimmende Bedeutung. Nach Croce ist Natur weder schön noch häßlich. Schön ist alles was Künstler im positiven Sinne bewegt und von ihnen als Schöpfung des ästhetischen Geistes zum Ausdruck gebracht werden kann. Der künstlerische Ausdruck schafft ideale Verknüpfungen, in die die natürlichen Objekte einbezogen werden.

Kreative Prozesse beschreibt Croce als eine Verbindung von Intuition und gelungenem Ausdruck. Ausdruck ist nicht bloß Reproduktion der äußeren Welt, sondern ein schöpferischer Akt, durch den subjektive Empfindungen erfahrbar gemacht werden. Form und Inhalt ergeben im schöpferischen Akt eine untrennbare Einheit, die eine einzigartige und individuelle Sprache sprechen. Der kreative Prozess ist zugleich induktiv und deduktiv. Auch Induktion und Deduktion lassen sich nicht trennen.

Das Schöne hat nach Croce keine physische Existenz. Er kritisiert Regeln, die auf Naturgesetzmäßigkeiten aufbauen, wie beispielsweise proportionale Verhältnisse, die in der Anordnung von Blütenblättern oder bei Spiralformen von Muscheln beobachtet werden können. Solche Regeln versuchen das Schöne aus Naturgesetzen abzuleiten, da das Naturschöne als eine Art universelles Prinzip verstanden wird. Für Croce ist das „Astrologie der Ästhetik“.

Abb2: Auszug aus „Grundlinienversatz“

Die Theorie der Wellen- oder Schlangenlinien ist ein ästhetisches Konzept, das insbesondere in der Kunst, Architektur und Naturphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Sie wurde vom englischen Maler und Kunsttheoretiker William Hogarth in seinem 1753 veröffentlichten Buch The Analysis of Beauty (Die Analyse der Schönheit) eingeführt. Auch er glaubte an ein universelles Prinzip der Schönheit, das auf natürliche Weise anziehend wirkt.

Der Goldene Schnitt (auch als göttliche Proportion oder Teilung bezeichnet) steht ebenfalls für die Ansicht, dass das Naturschöne als harmonisches Proportionsverhältnis mathematisch nachgebildet und in der Kunst reproduziert werden kann. Er findet sich in den Proportionen des Parthenons oder in Gemälden von Leonardo da Vinci wie der „Mona Lisa“. Er beschreibt ein Verhältnis, bei dem das Verhältnis des Ganzen zu seinem größeren Teil dem Verhältnis des größeren Teils zum kleineren Teil entspricht. Der Wert dieses Verhältnisses ist etwa 1,618 und wird mit dem griechischen Buchstaben φ (Phi) dargestellt.

Mathematisch wird der Goldene Schnitt wie folgt definiert: Wenn eine Strecke in zwei Teile (a und b) geteilt wird, sodass das Verhältnis der gesamten Strecke zur längeren Teilstrecke gleich dem Verhältnis der längeren Teilstrecke zur kürzeren Teilstrecke ist, dann gilt:

Abb. 3: Mathematische Formel zur Berechnung des goldenen Schnitts

Croce zeichnet einen Gegenentwurf zu einer mathematisch-deterministischen Herangehensweise an kreative Prozesse und postuliert die Intuition als maßgeblichen Faktor für Kreativität. Intuition lässt sich in ihrer Komplexität nicht hinreichend mathematisch erfassen. Es fragt sich, ob Maschinenlernen dazu irgendwann ind er Lage sein wird und was dies für unser ästhetisches Verständnis bedeutet.

Ein Auge wird als schön wahrgenommen, wenn es in harmonischer Verknüpfung von natürlichen Objekten eines menschlichen Gesichts dargestellt wird. Ein Auge, das in Form einer Raupe dargestellt ist, wirkt zunächst befremdlich. Es mag sich nicht der Eindruck von Schönheit einstellen, und doch bewegt die Darstellung, da sie gewohnte Denkmuster durchbricht. Nach Croce macht die Umformung von Impressionen zu Ausdruck und Form das Künstlerische aus; das Ergebnis einer gelungenen Umformung ist „Poesia“, Poesie ist somit nicht einfach die Vermittlung von Ideen oder Gefühlen, sondern die Manifestation einer originellen und einzigartigen Weltsicht.

Es liegt im Auge des Betrachters und der Betrachterin, ob dies mit den beiden Illustrationen gelungen ist. Croce ging wohl eher von Gemäden aus, wie wir sie aus dem Idealismus kennen. Sie setzen reale Objekte so in Szene, dass sie eine Geschichte erzählen die eine tieferliegende geistige Ebene offenbaren.

The Abbey in the Oakwood (1808–1810). 110.4 × 171 cm. Alte Nationalgalerie, Berlin

Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das Gemälde von Caspar David Friedrich „Abtei im Eichwald“. (Caspar David Friedrich, Public domain, via Wikimedia Commons)

Die Raupen-Collage mit ihren surrealen Elementen verweist auf spätere Zeiten. Sofern jedoch erreicht wurde, dass Rezipienten ihren eigenen Kunst- und Schönheitsbegriff reflektieren, ist das schon eine ganze Menge.

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